Ein Hashtag, ein Clip, ein Zitat und plötzlich wird ein Buch zum viralen Ereignis. Geschichten funktionieren heute anders: digitaler, emotionaler, vernetzter. Wer Bücher nur als Produkt versteht, verpasst das eigentliche Potenzial.
2025 ist das Jahr, in dem TikTok seinen eigenen Verlag gründet und Hörbuchumsätze eine Steigerung von 30 % aufweisen. Was sagen uns diese Zahlen, wohin verlagert sich die Branche und wo müssen Verlage den Fokus setzen, um nicht ihre Position als Publisher zu verlieren: eine reale Gefahr, die seit Jahren zunimmt.
Das zeigt auch der Erfolg von „Fourth Wing“ der US‑Autorin Rebecca Yarros. Das Fantasybuch wurde durch BookTok zum viralen Phänomen und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach. Doch der Erfolg ging weit über das Produkt hinaus: Verlage wie Red Tower setzten bei der Vermarktung gezielt auf exklusive Special Editions, passende Soundtrack‑Playlists und ein intensives Community‑Building auf Social Media. Hier wurde das Buch zur Marke, zur Experience und zur Einladung, Teil eines größeren Universums zu werden.
In einer Zeit digitaler Reizüberflutung hat das Buch an seiner isolierten Position eingebüßt. Menschen suchen heute nicht mehr nur eine Geschichte, sie suchen einen Ort, an den sie sich zurückziehen können, einen Moment des Eskapismus, der sie kurz aus dem Alltag löst. Das macht das Medium Buch nicht weniger wertvoll, sondern verlagert seinen Wert: weg vom reinen Produkt, hin zum Ausgangspunkt eines Erlebnisses. In dieser digital vernetzten Kultur sind es Interaktion, Gemeinschaft und Kontext, die eine Erzählung erst zur nachhaltigen Erfahrung machen. Das Buch bleibt der Kern, doch erst durch alles, was darum herum geschieht, entfaltet es seinen vollen Wert.
Die Aufgabe besteht darin, das Buch vom isolierten Produkt zum Ausgangspunkt eines emotionalen Erlebnisses zu machen. Das gelingt, indem Verlage Storytelling ganzheitlicher denken: Sie gestalten Geschichten, die über das gedruckte Werk hinauswachsen und Menschen in ganze Welten eintauchen lassen, durch spezielle Formate, begleitenden Content und gezieltes Community‑Building.
Ein besonders gelungenes Beispiel dafür ist „Heartstopper“ von Alice Oseman. Der Graphic‑Novel wurde nicht nur durch seinen authentischen, empathischen Erzählton zur Marke, sondern auch durch seinen transmedialen Ansatz. Die Serie bei Netflix, exklusive Extras wie Bonuskapitel, Fan‑Art‑Contests und eine lebendige Online‑Community machten „Heartstopper“ zum gemeinsamen Erlebnis. Der Loewe Verlag nutzte diese Begeisterung gezielt, um Buch und Serie miteinander zu verknüpfen und eine ganze Generation von Leser*innen abzuholen.
Auch andere Verlage wie dtv gehen inzwischen gezielt diesen Weg und verlängern Geschichten durch Social‑Media‑Kanäle, Podcasts und exklusive Lesungen und Events. Das Resultat: Das Buch dient nicht mehr nur als Träger einer Erzählung, es ist der Auftakt eines gemeinschaftlichen Erlebnisses, das Menschen begeistert und sie zum Teil einer größeren Story werden lässt.
Der Wandel vom Produkt zum Erlebnis eröffnet Verlagen enorme Chancen: Wer Geschichten emotional auflädt, Communitys einbindet und Formate vernetzt, kann langfristige Leser*innenbindung, Sichtbarkeit und Markenstärke aufbauen. Gleichzeitig erfordert dieser Wandel neue Kompetenzen, Ressourcen und die Bereitschaft, traditionelle Vermarktungslogiken zu hinterfragen. Denn wo Erlebnisse inszeniert werden, steigen auch die Erwartungen an Authentizität, Dialogfähigkeit und digitaler Präsenz.
Die Buchbranche steht nicht vor einem Hype, sondern vor einem strukturellen Wandel. Leser*innen erwarten heute mehr als Inhalte, sie erwarten Kontext, Teilhabe und emotionale Verbindung. Wer das Buch weiterhin nur als fertiges Produkt denkt, riskiert, an Relevanz zu verlieren.
Verlage, die Storytelling als strategisches Instrument begreifen und gezielt Erlebnisräume schaffen, sichern sich langfristig Sichtbarkeit und Anschlussfähigkeit. Nicht jeder Titel muss zur Marke werden, aber jedes Buch sollte als Ausgangspunkt für Beziehung, Identifikation und kulturelles Teilhaben verstanden werden.
Vom Produkt zum Erlebnis ist daher kein Trendbegriff, sondern eine notwendige Perspektive für zukunftsfähiges Publizieren.
Autorin: Sara Strotmann